Chemielogistik in Bewegung
Autoren: Professor Dr. Christian Kille und Dr. Andreas Backhaus I Lesezeit: 7 Minuten
06/12/2024
Die Chemieindustrie zählt weltweit zu den größten Wirtschaftszweigen mit hohen Exportquoten – und sehr hohem Energiebedarf. Wie sich in Deutschland als einem der größten Chemiestandorte die gegenwärtige umfangreiche Transformation und insbesondere der Umstieg auf erneuerbare Energien auf die Chemielogistik auswirkt, hat jetzt eine wissenschaftliche Studie untersucht. Erste Ein- und Ausblicke von den Studienleitern Professor Dr. Christian Kille und Dr. Andreas Backhaus.
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Wir leben in transformativen Zeiten. Das gilt in besonderer Weise für unsere Schlüsselindustrien wie die Chemieindustrie. Die damit verbundene umfassende Veränderungsdynamik wirkt sich auch auf die Logistik und ihre Prozesse aus. Die Studie „Chemielogistik in Bewegung – Szenarien und Ausblick für Deutschland“ beschreibt dazu am konkreten Standortbeispiel den aktuellen Status der Chemielogistik hinsichtlich ihrer weltweiten Güterflüsse. Sie entwickelt konkrete Szenarien der Entwicklungen und beschreibt die zu erwartenden Wirkungen auf die zukünftige Gestaltung der Supply Chains. Auf Basis dieser Erkenntnisse ergeben sich sechs Handlungsempfehlungen, wie die Chemielogistik einen Beitrag leisten kann, dass der Chemiestandort Deutschland weiterhin erfolgreich im internationalen Wettbewerb bestehen kann und sich daraus zugleich nachhaltig positive Effekte für die weltweiten Zielmärkte ergeben.
Die Arbeit erfolgte in mehreren Schritten, um die Ergebnisse der Studie so differenziert und so analytisch wie nötig, gleichzeitig so praxisnah und so plausibel wie möglich zu entwickeln.
Analyse der Chemieindustrie am Beispiel Deutschland
Zuerst beschreibt die Studie den Ist-Zustand der Chemieindustrie. Mit dem Wissen über deren Produktions- und Logistikstandorte sowie den Güterflüssen ist es möglich, die zu erwartenden Veränderungen konkret aufzuzeigen.
Mit rund 200 Milliarden Euro Umsatz, knapp 4.000 Unternehmen, über 350.000 Beschäftigten sowie zirka 10 Milliarden Euro Logistikkosten ist die Chemieindustrie eine der Schlüsselindustrien in Deutschland. Sie betreibt in der ganzen Republik Produktionsstandorte und ist ein wichtiger Lieferant für jede Industrie. Dabei liegt der Schwerpunkt der Logistikstandorte im Westen Deutschlands (Nordrhein-Westfalen) und in dem Chemiedreieck Baden-Württemberg/Rheinland-Pfalz/Hessen. Der wichtigste Transportkorridor für Bulk-Produkte und Massengut erstreckt sich von Südosten nach Nordwesten zu den Universal-Seehäfen in Antwerpen (Belgien), Rotterdam (Niederlande) und Amsterdam (Niederlande). Verpackte Ware hingegen wird flächiger verteilt und weist keinen ähnlich deutlichen Korridor auf.
Anschließend wurden die übergreifenden Trends und Treiber betrachtet, die für die Wirtschaft und insbesondere für die Chemiebranche relevant sind. Sie bieten die Möglichkeit, die unterschiedlichen Entwicklungsrichtungen einzuschätzen. Durch den hohen Im- und Exportanteil der Chemieindustrie sind die weltweiten Veränderungen von besonderer Bedeutung. Allen voran die aktuellen geopolitischen Verwerfungen. Sie haben nicht nur zu hohen Energiekosten geführt, sondern auch zu zunehmendem Protektionismus wichtiger Partnerländer. Eine weitere Herausforderung sind die in vielen relevanten Ländern anstehenden politischen Richtungsentscheidungen in Form von Wahlen, die die Lage deutlich verändern können. Diese Unsicherheit auf der makroökonomischen Seite, speziell die daraus resultierenden hohen Energiekosten sowie die derzeitige Schwäche der deutschen Wirtschaft insgesamt, macht es nicht leicht, Entscheidungen über notwendige Investitionen in Digitalisierung, neue logistische Lösungen und Klimaschutz zu treffen.
200
Milliarden Euro Umsatz macht die deutsche Chemieindustrie. 10 Milliarden Euro betragen die Logistikkosten.
Entwicklung eines realistischen Szenarios
Vor diesem komplexen Hintergrund stellt die Studie Thesen zur Wirkung der Trends und Treiber auf die Chemieindustrie und die Chemielogistik auf. Sie dienten zugleich als Input für eine Umfrage in der Fachöffentlichkeit, die in Zusammenarbeit mit der deutschen Fachzeitschrift CHEManager durchgeführt wurde. So halfen die Thesen dabei, die Komplexität handhabbar und weitere Interpretationen praxisnäher gestalten zu können. Dabei wurde zwischen den Wirkungen durch gesellschaftliche, technologische, ökonomische, ökologische und politische Veränderungen unterschieden.
Aus diesen Erkenntnissen leitet die Studie im nächsten Schritt ein realistisches Szenario ab. Darauf folgt die Analyse, wie dieses Szenario die Chemiebranche und insbesondere die Chemielogistik tendenziell verändern wird. Das Ergebnis:
Gesellschaftlich: Trotz intensiver Bemühungen um das Ansehen in der Gesellschaft, schaffen es die Unternehmen der Chemiebranche und der Chemielogistik nicht ausreichend, sich als attraktive Arbeitgeber zu positionieren und werden damit nicht nur den Fachkräftemangel generell spüren, sondern auch größere Herausforderungen bei der Transformation haben.
Technologisch: Während die Herausforderungen bei der Infrastruktur größer und drängender werden, können die öffentlichen Einrichtungen wie auch die Unternehmen der Chemiebranche und der Chemielogistik ihre Effizienz und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern – aufgrund gesteigerter Investitionen und ausgereifter Lösungen der Digitalisierung und Automatisierung.
Wirtschaftlich: Auf der einen Seite werden zahlreiche Chemieunternehmen weiterhin sinkende Umsätze und Produktionsschließungen vermelden, während andere Wachstum erfahren. Die zu erwartenden Entwicklungen werden herausfordernd für Chemielogistikunternehmen mit Fokus auf Bulk-Produkte und Massengut. Demgegenüber wird das Volumen verpackter Ware und damit zusammenhängender Zusatzleistungen wachsen.
Ökologisch: Generell sind die klimabedingten Einflüsse auf die Chemiebranche handhabbar, auch wenn sie mit Kostensteigerungen einhergehen. Trotzdem werden sich die Chemiebranche und auch die Chemielogistik langfristig neu sortieren, da nicht allen Unternehmen die Transformation gelingen wird.
Politisch: Auf dem Weg zur Lösung der (Handels-)Konflikte, der Reduzierung der aktuell hohen Energiekosten und dem Erreichen der Klimaneutralität hat die Politik viele Herausforderungen, die zu einer handhabbaren Belastung für manche Unternehmen, für andere wiederum zu nicht tragbaren Kostensteigerungen führen.
Die Studie „Chemielogistik in Bewegung – Szenarien und Ausblick für Deutschland“ entstand mit Unterstützung von DACHSER Chem Logistics und der Fachzeitschrift CHEManager in Zusammenarbeit der Logistikexperten Dr. Christian Kille, Professor für Handelslogistik und Operations Management an der Technische Hochschule Würzburg-Schweinfurt, und Dr. Andreas Backhaus.
Analyse und Handlungsempfehlungen
Fortschritt für den Logistikalltag
Aus dem Szenario ergibt sich, dass einige Logistikstandorte insbesondere im Süden und Westen Deutschlands mit negativen Entwicklungen rechnen müssen. Standorte im Osten und Norden werden tendenziell besseren Zugang zu regenerativen Energien und damit weniger Herausforderungen haben. Die Standorte mit Spezialchemie werden sich voraussichtlich bei der Entwicklung etwas leichter tun. Damit verschiebt sich nicht nur der Schwerpunkt von Logistikstandorten nach Osten, auch bei den Güterflüssen zeigen sich Veränderungen.
Aus all dem leitet die Studie Handlungsempfehlungen ab, wie Chemieunternehmen ihre Logistik gestalten können, damit sie trotz der Herausforderungen weiterhin erfolgreich im internationalen Wettbewerb bestehen können.
1. Logistik kann (immer noch) nur durch Menschen erfolgreich sein: Die Investition in die Rekrutierung und Bindung von Personal sichert das bestehende Geschäft ab und verspricht langfristige Wettbewerbsvorteile.
2. Innovationen bedeuten Standortvorteile: Neben der Beteiligung an der Erforschung von Logistikinnovationen bedarf es Maßnahmen zur Modernisierung der Logistik für eine gute Positionierung im internationalen Wettbewerb.
3. Der Chemiestandort Deutschland kann nur mit hoher Qualität und diversifizierten Portfolios erfolgreich sein: Investitionen in Automatisierung und Digitalisierung sind in der Logistik entscheidend, um die Resilienz und damit die Leistungsfähigkeit der Chemiebranche zu steigern.
4. Ein Wandel wird in der Chemie stattfinden: Die Veränderungen im Chemiemarkt erfordern eine Neubewertung und Anpassung der logistischen Netzwerke und Angebote.
5. Die Auswirkungen von Klimawandel und Energiewende führen zu strategischen Richtungsänderungen in der Chemieindustrie: Die Logistik muss sich auf restriktive Maßnahmen im Zuge der Energiewende vorbereiten und Prozesse implementieren, die gegen die Auswirkungen des Klimawandels resistent sind.
6. Die Unternehmen der Chemie müssen sich in einer multilateralen Welt mit zunehmenden Spannungen zurechtfinden: Der Trend zur Regionalisierung führt aufgrund des wachsenden Wettbewerbs zu geringeren Überseeexporten. Die verbleibenden globalen Lieferketten müssen mit umfassender Kooperation, neuen Ansätzen und modernen Technologien robuster betrieben werden.
Fazit: Die Chemielogistik ist und bleibt ein zentraler Pfeiler für eine erfolgreiche Chemiebranche – in Deutschland und weltweit.

Die Autoren im Profil
Prof. Dr. Christian Kille ist am Institut für Angewandte Logistik (IAL) an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt tätig.
Dr. Andreas Backhaus leitete bis 2019 die Logistik der europäischen Standorte der BASF und verantwortete die Supply-Chain-Strategie der BASF-Gruppe. Seit seiner Pensionierung ist er als freier Dozent und Berater tätig.
Das Fachmagazin CHEManager befragte Professor Kille sowie Michael Kriegel, Department Head Dachser Chem Logistics zu den Schlüsselerkenntnisse. Lesen Sie hier das Interview.